Mittwoch, 11. Oktober 2006

Die Zeit davor

Bevor es September wurde und mein Dienst im Ausland begann, ereignete sich noch eine ganze Menge...
In den drei Monaten, die mir nach meinem Abitur verblieben, hatte ich so richtig viel Zeit.
Ein herrliches Gefuehl, das ich wohl zum letzten Mal in meiner Kindergarten- oder Grundschulzeit gehabt haben muss. Fast hatte ich vergessen, wie sich so was anfuehlt. ^^
Und trotzdem schritt diese Episode wie im Fluge vorbei...
Am 30. Juni war unser Abiball. Und so irreal das viele Verabschieden wirkte – mir lag die ganze Zeit ein „Hey, ich fahr doch erst in drei Monaten nach Paris!“ auf den Lippen – so schnell trennten sich mit den meisten die Wege.
Manche begannen gleich am Montag danach beim Bund, andere verschlug es nach Neuseeland fuer ein Aufenthalt à la „Work-And-Travel“.
Dass ich nicht mehr zur Schule gehen musste, das hiesz fuer mich ersteinmal:
Meine Projektreise stand an.
Bei meiner Organisation EIRENE ist es ueblich, dass man vor Dienstantritt in das jeweilige Land faehrt, um sich seine zukuenftige Arbeit anzugucken. Auf diese Weise soll man fuer sich herausfinden, ob einem die ausgesuchte Stelle liegt und gefaellt. Diese Reise soll also einen letzten Test darstellen, damit sich die entsendeten Freiwilligen ihrer Sache auch wirklich sicher sind. Man lernt sein Kollegium kennen, arbeitet mit ihm zusammen und kann sich im Idealfall schon einmal von seinem Vorgaenger einfuehren lassen oder seine neue Wohnung ansehen.
Also fuhr ich frohen Mutes und voller Erwartungen nach Paris – Gare de l'est. Meine erste Fahrt mit dem Nachtzug im „Schlaf“-Wagen. Noch jetzt wundere ich mich, dass ich auf dieser kurzen Pritsche in oberster Reihe, bei absolut erdrueckendem Klima ueberhaupt ein Auge zukriegte...
Die Woche war ein voller Erfolg. Alles stimmte: Geduldiger Vorgaenger, nette Equipe, akzeptable Wohn- sowie Arbeitsbedingungen. Nebenbei konnte ich drei Tage nutzen, um Paris zu besichtigen, denn ich war das erste Mal in dieser Metropole. Und das beste: Ich erlebte Frankreich im WM-Fieber. „Allez, les bleues!“ Die Woche war schneller vorbei, als mir lieb war. Voller Vorfreude und fast ein wenig wehmuetig fuhr ich zurueck in meine nun ungewoehnlich fremde Heimat. „Das Tor zum Odenwald“ schien sich verschlossen zu haben und ich fuehlte mich ein wenig, wie die politischen Fluechtlinge, mit denen ich nun arbeite: Hin- und hergerissen und nirgendwo Zuhause...
Nun war daher meine erste Prioritaet, die Freizeit mit Aktivitaeten zu fuellen, um mich abzulenken. Und das tat ich in ueberdurchschnittlich groszem Masze:
Ich schlief lange, besuchte bei Sonnenschein das Hochschulstadion, traf mich eigentlich jeden Tag mit Freunden, empfing Verwandte, ging in Ober-Ramstad schwimmen, radelte und joggte und suchte mir nicht zuletzt einen neuen Gitarrenlehrer, um das klassiche Nylonseiten-Gefudel nach langer Zeit der Entbehrung wieder aufzunehmen.
Hierbei hatte ich groszes Glueck: Auf der Hobit hatte ich Denis kennen gelernt. Er erzaehlte mir, dass er aus der Ukraine komme und an der Akademie fuer Tonkunst klassische Gitarre studiere. Als ich ihn nach der Nummer seines Lehrers Tillmann Hoppstock fragte, bot er mir an, mich kostenlos zu unterrichten... So kam es, dass ich fuer 6 Wochen die Ehre hatte, erstklassige Gitarrenstunden von einem unglaublich talentierten, jungen Studenten zu beziehen. Und das fuer niente, nothing, nullu, kein klitzekleines bisschen. Er weigerte sich strikt, Geld anzunehmen und betonte stets, er lerne auch von mir, da er an mir das Unterrichten ja quasi ausprobieren koenne und sein Deutsch verbessern wuerde.
Um also dieses Unterkapitel zu beenden: Ich habe in diesen sechs Wochen viel gelernt und hatte groszen Spasz.
Die letzte grosze Unternehmung war die Schottlandtour. Mit Sepp, Tobi und Marius, drei Freunden aus „Owwa Raemst“, wanderte ich 10 Tage durch die Highlands. Anschlieszend blieb noch Zeit, Glasgow zu besichtigen. Ich bin sehr dankbar, dass diese Fahrt noch geklappt hat, denn es war in vielerlei Hinsicht ein besonderes Ereignis. Ich hatte beim Wandern viel zeit zum Nachdenken und so rueckte in meinem Bewusstsein Frankreich ein wenig naeher. Ich genoss die Stille und die Einsamkeit, denn bei meinem Besuch in Paris hatte ich gemerkt, wie voll, laut und erdrueckend Paris sein kann. Wir liefen, trafen halbwilde Schafe, Ziegen und Kuehe und redeten. Ich hatte die Ruhe, innerlich Abschied vom Kleinstadtleben zu nehmen und mich auf das Leben in der Groszstadt einzustellen...